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    30.05.2018

    Bioelektronische Medizin – Eine Einführung in eine neue Disziplin

    • Thomas Stieglitz, René von Metzen, Alfred Stett

      Einleitung

      In Diagnose und Behandlung von Krankheiten sowie in der Rehabilitation haben technische Hilfsmittel eine lange Tradition als Werkzeuge, die den Arzt unterstützen. Die Medizintechnik hat Erfolgsgeschichten wie Blutdruckmanschetten und Computertomographen hervorgebracht, die aus der alltäglichen Praxis nicht mehr wegzudenken sind. Bei der Behandlung von Volkskrankheiten aber auch bei neurologischen Erkrankungen, wie sie in alternden Gesellschaften immer stärker auftreten, sind medikamentöse Behandlungsformen die Methode der Wahl, sei es bei Bluthochdruck oder auch bei Epilepsie. Erst wenn mehrere Kombinationen von Medikamenten nicht oder nicht mehr wirken, werden Implantate in Betracht gezogen, die mit Hilfe elektrischer Stimulation Hilfe anbieten. Wenn große Teile des Körpers (auch) über elektrische Signale funktionieren, sollte dieses Wissen nicht schon frühzeitig für Behandlungsformen nutzbar gemacht werden? Was kann getan werden, wenn Krankheiten „austherapiert“ sind, also keine weitere Verbesserung des Zustandes mehr bei konventioneller Behandlung zu erwarten ist? Wie sind der Nutzen und das Risiko eines Implantates im Hinblick auf Nebenwirkungen im Vergleich zu Pharmazeutika zu bewerten? Die „Bioelektronische Medizin“ verspricht hier Verbesserungen im Therapieerfolg durch neuartige Ansätze. Doch gibt es eine Wirkung ohne Nebenwirkung?

      Was ist „Bioelektronische Medizin“?

      Elektrisch aktive Implantate, die Signale natürlicher Sensoren und Organe im menschlichen Körper überschreiben, können alternative Behandlungsmethoden zu konventionellen pharmazeutischen Lösungen bieten. „Elektrozeutika“, „elektronische Pillen“ und „bioelektronische Medizin“ sind Begriffe, die seit 2013 von der Firma GlaxoSmithKline und einigen US-amerikanischen Forschergruppen geprägt wurden und nun innerhalb einer schnell gewachsenen Gemeinschaft den Einsatz von neuronalen Schnittstellen und Implantaten in diesem Forschungsfeld beschreiben. Volkskrankheiten in einer alternden Gesellschaft wie Diabetes, rheumatische Arthritis, Asthma aber auch Bluthochdruck, Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn sind sowohl auf der Liste der Forschungsthemen von akademischen Gruppen in der Biomedizinischen Technik als auch bei kleinen und großen Firmen.

      Im Organismus ist eine Vielzahl von Regelkreisen permanent aktiv, die sämtliche Körperfunktionen steuern. Dabei modulieren oder aktivieren Messwerte körpereigener Sensoren physiologische Abläufe. An dieser Stelle setzt die bioelektronische Medizin an. Im Gegensatz zur therapeutischen Stimulation, bei der ein Reizstrom eine direkte Aktion hervorruft (z.B. Herzschrittmacher, Cochlea-Implantat), soll hier in die Regelkreise eingegriffen werden (Abbildung 1). Ähnlich wie bei der Neuromodulation, bei der eine permanente, unterschwellige Stimulation einen Einfluss auf physiologische Vorgänge hat (z.B. Rückenmarkstimulation zur Schmerztherapie, tiefe Hirnstimulation), wird die Wirkung nicht direkt erzielt, sondern über ein möglichst spezifisches, dezentes Einwirken auf die Signalweiterleitungen im Körper, mit dem Ziel, krankhafte Organfunktionen zu normalisieren, oder über Änderungen von Hormonausschüttungen weitere Effekte zu erzielen.

      VDE Health Grafik

      Abbildung: Veranschaulichung des Wirkprinzips elektronischer Medizin: Das System liest das neuronale Signal eines körpereigenen Sensors aus und überschreibt diesen Wert, um auf den physiologischen Regelkreis Einfluss zu nehmen

      Große Versprechungen sind gemacht worden, die die folgenden Jahre eingehalten werden müssen. Hierbei bedarf es einerseits finanzkräftiger Investoren, die den langen Weg von einer Idee bis zu einem zugelassenen Medizinprodukt und Kostenerstattung durch die Gesundheitssysteme finanziell begleiten. Weiterhin muß aber auch noch eine Vielzahl von medizinischen und technischen Herausforderungen gelöst werden.

      Technische und medizinische Herausforderungen

      Bei jeglicher Anwendung wäre es optimal, wenn die physiologische Wirkungskette vollständig identifiziert wäre, der körpereigene Sensorwert für einen Parameter ausgelesen werden und ebenso spezifisch überschrieben werden könnte. Die Bedingungen dafür sind zunächst äußerst ungünstig: die physiologischen Regelkreise sind sowohl kausal als auch lokal nicht vollständig bekannt. So gibt es beispielsweise für das viszerale Nervensystem noch keinen anatomischen und funktionellen Atlanten, in den nachgeschlagen werden könnte. Die Signalweiterleitung in Nervenbahnen ist räumlich extrem dicht gepackt, wobei verschiedenste Signale nebeneinander verlaufen, die exakte Anordnung ist individuell unterschiedlich. In direkter Konsequenz bedeutet das, dass technische Lösungen entwickelt werden müssen, die räumlich hochspezifische Schnittstellen mit dem Nervensystem ermöglichen. Bei der bioelektronischen Medizin wird der Ansatz verfolgt, die benötigte Spezifizität über eine Ankopplung möglichst nah an oder in Organen zu erreichen; klassische Neuromodulation setzt hingegen an sehr zentralen Strukturen (Hirn, Rückenmark, Vagusnerv) an. Mit dieser Fragestellung setzt sich die aktuelle Forschung auseinander. Werkzeuge müssen erschaffen werden, die diese Anforderungen erfüllen. So müssen Mikroimplantate entwickelt werden, die eine Auflösung im Mikrometerbereich ermöglichen, ohne die Funktion der Nerven zu beeinflussen. Mit diesen technischen Hilfsmitteln muss im nächsten Schritt erforscht werden, auf welchem Nerv welche Information für welchen physiologischen Vorgang verläuft. Um neuartige Ansätze relativ schnell auf Machbarkeit zu testen, sind Kleintiermodelle am Nager erforderlich, mit denen optimale Implantationsorte, Dosis-Wirkungskurven und Nebenwirkungen valide untersucht werden können. Auch die Langzeit-Nebenwirkungen, wenn technische Systeme in natürliche Regelkreise eingreifen, sind noch unbekannt.

      Der Erfolg bioelektronischer Therapien hängt nicht von der technologischen Lösung ab, sondern vom Wirkmechanismus der bioelektronischen Therapie. Dieser muss verstanden sein um die Therapie effizient und personalisierbar machen zu können. Auf der einen Seite ist hier also noch Grundlagenforschung notwendig, die sich mit der Entschlüsselung der Sprache des Nervensystems beschäftigt, ein funktionelles Mapping von Aktivität und Funktion im gesunden und kranken Organismus betreibt und die Wirkmechanismen als Grundlage bioelektronischer Therapien entschlüsselt. Auf der anderen Seite werden schon konkrete Ansätze für Therapien verfolgt wie beispielsweise ein System der Firma Neuroloop mit Sitz in Freiburg i.Br., das eine bioelektronische Bluthochdrucktherapie verfolgt.

      Aktuelle Forschung und Entwicklungen

      Seit der Vorstellung der „bioelektronischen Medizin“ im Fachmagazin NATURE im Jahr 2013 und dem ersten Aufruf zur Einreichung von Forschungsideen des britischen Pharmaziekonzerns GlaxoSmithKline hat sich eine rasch anwachsende wissenschaftliche Gemeinschaft gebildet, die die medizinischen Fragen und technologischen Herausforderungen des Forschungsfeldes zu lösen versucht. Die Gründung von GALVANI BIOELECTRONICS im Sommer 2016 mit GlaxoSmithKline und Google als Investoren mit einer Investmentsumme von 644 Millionen Euro ist ein deutlicher Ausdruck des geschätzten Marktpotentials. In den USA sind das Feinstein Institut und Gruppen, die von der DARPA Forschungsförderung erhalten, stark und weltweit sichtbar auf diesem Gebiet aktiv. Die Europäische Union hat noch keinerlei Aufruf zu diesem Thema im Rahmenprogramm Horizon 2020 gestartet oder vorgesehen. In Deutschland werden vom BMBF einzelne Projekte großzügig gefördert, die sich im Bereich der individualisierten Medizintechnik und der Mensch-Technik-Interaktion mit Themen der Bioelektronischen Medizin beschäftigen. Eine verstärkte programmatische Förderung im Bereich Grundlagen- aber auch in anwendungsorientierter Forschung wäre wünschenswert.

      Die Arbeiten von Firmen in innovativen Feldern der Medizintechnik hat dieses Jahr die Zeitschrift Brand1 gewürdigt. Die Firmen Retina Implant, Cortec und neuroloop (mit Aeskulap/BBraun als Hauptgesellschafter), die im Bereich der intelligenten Implantate für neurotechnische und bioelektronische Anwendungen arbeiten, sind hierbei unter den Top 10 gelandet. Bündelung von Experten und Expertisen aus Akademia und Wirtschaft ist notwendig und wird von lokalen Initiativen und Clustern wie microTEC Südwest in Baden-Württemberg betrieben. Eine Bündelung und Zusammenschau der Aktivitäten, Möglichkeiten und Herausforderungen zur Bioelektronischen Medizin unter der Federführung der DGBMT im VDE ist im laufenden Jahr geplant.

      Herausforderungen für Deutschland und Europa

      Die Herausforderungen der bioelektronischen Medizin für Medizin und Technik sind groß, aber mit den Kenntnissen und Fertigkeiten gut ausgebildeter Fachkräfte in Deutschland machbar. Eine Bündelung der Aktivitäten in Deutschland ist notwendig um international konkurrenzfähig zu werden. Im Vergleich zu den USA gibt es in Deutschland und Europa (noch) keine breite strategische Forschungsförderung im Bereich Neurotechnik und Bioelektronische Medizin, die von der Methoden- und Geräteentwicklung bis hin zu ersten klinischen Machbarkeitsstudien alle Schritte abdeckt und einschließt.

      Bioelektronische Medizinprodukte sind aufgrund ihrer Komplexität nicht für den schnellen Marktzugang mit Kostenerstattung geeignet. Für die Zulassung müssen hohe regulatorische Hürden (aktive Produkte der Klassen II und III) genommen werden, die mit der Einführung der neuen Medizinprodukteverordnung (MDR: Medical Device Regulation, EC 2017/745) so hoch geworden sind, dass Firmen mittlerweile den Umweg der Zulassung und eines Nutzennachweises in den USA (FDA PMA) wählen, um mit diesen gewonnenen Dateneine Zulassung in Europa anstreben.

      Für die erfolgreiche Vermarktung der bioelektronischen Therapien ist jedoch nicht die intelligente technische Lösung ausschlaggebend, sondern der damit erzielbare Nutzen für den Patienten und das Gesundheitssystem. Für die CE-Kennzeichnung aktiver Implantate durch die Zulassungsstellen und für den Nutzennachweis für die Kostenerstattung durch die Gesetzlichen Krankenkassen sind aufwändige Studien durchzuführen, die kleine und mittelständische Medizintechnikfirmen nicht oder nur schwer stemmen können.

      Hilfestellungen, höhere Transparenz, bessere Vorhersagbarkeit von Prüfungszeiträumen, Dialogbereitschaft bei der Planung, Beantragung und Durchführung von Zulassungen und Verfahren zur Kostenerstattung von Seiten von Behörden, benannten Stellen und Kostenerstattern sowie eine allgemein höhere Bereitschaft Risiken einzugehen, wenn ein hoher Nutzen vorherzusehen ist, würde helfen, den Anteil innovativer Medizintechnik aus Deutschland auf dem internationalen Markt weiterhin hoch zu halten.

      Kernaussage:

      Die Bioelektronische Medizin widmet sich den großen Volkskrankheiten und erforscht Ansätze, sie mit elektrischem Strom und Implantaten anstelle von Pillen zu behandeln. Die Therapie basiert darauf, körpereigene Regelkreise abzuhören und durch Überschreiben von veränderter Information zu beeinflussen. Der Erfolg bioelektronischer Therapien hängt nicht von der technologischen Lösung ab, sondern davon, wie gut der Wirkmechanismus verstanden wird um die Therapie effizient und personalisierbar zu machen, und wie gut der Nutzennachweis gelingt und die Therapie sich gesundheitsökonomisch auszahlt.

       

      Lebensläufe

      Thomas Stieglitz

      Univ.-Prof. Dr.-Ing. habil. Thomas Stieglitz leitet die Professur für Biomedizinische Mikrotechnik am Institut für Mikrosystemtechnik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg seit dem Jahr 2004. Er ist stellvertretender Sprecher des Exzellenzclusters BrainLinks-BrainTools sowie der Fachgruppe Intelligente Implantate des Clusters microTEC Südwest. Weiterhin leitet er den Fachausschuss Intelligente Implantate und Neuroprothetik der DGBMT im VDE.

      Thomas Stieglitz studierte Elektrotechnik an der TU Braunschweig und der TH Karlsruhe. Promotion und Habilitation wurden von der Universität des Saarlandes verliehen. In der Zeit von 1993 bis 2004 arbeitete Thomas Stieglitz am Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in St. Ingbert und etablierte dort das Fachgebiet der Neuroprothetik.

      René von Metzen

      Dr.-Ing. Rene von Metzen leitet seit 2014 die Arbeitsgruppe Mikromedizin und Oberflächentechnik am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut an der Universität Tübingen. Er studierte Elektrotechnik an der TU Berlin und promovierte an der Universität Freiburg, Institut für Mikrosystemtechnik. Er beschäftigt sich mit aktiven Mikroimplantaten für medizinische Anwendungen, insbesondere für die bioelektronischen Medizin.

      Alfred Stett

      Dr. Alfred Stett ist seit 2017 Technologie-Vorstand der Retina Implant AG, Reutlingen. Zuvor war er Stellvertretender Institutsleiter des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts (NMI) in Reutlingen. Er leitete dort den Bereich Technische Physik/Biophysik mit dem Schwerpunkt Mikro- und Nanosysteme für die Biotechnologie und Biomedizintechnik und führte zahlreiche Projekte im Zusammenhang mit der Entwicklung elektrophysiologischer Methoden und aktiven Implantaten durch.

      Dr. Stett studierte Physik an der Universität Ulm und promovierte dort 1995. Seine Doktorarbeit fertigte er am Max-Planck-Institut für Biochemie in München an.

      Er ist Sprecher der Fachgruppe Intelligente Implantate des Clusters microTEC Südwest.

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      Dominik Schuler
      Marketing
       
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